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Redensarten
Sprichwörter, geflügelte Worte und andere Gemeinplätze
Judith Arnold, Zürich, den
13.03.2007
zurück zum Kontext
Redensarten sind innerhalb eines
bestimmten Kulturkreises allgemein bekannt und können daher in
unterschiedlichen Zusammenhängen wirkungsvoll eingesetzt werden. Der
Vorteil von Redensarten in der Überzeugungsarbeit besteht darin, dass
sie gesellschaftlich oder gruppenspezifisch akzeptierte Werte,
Traditionen und Symbole transportieren und auf eine noch umstrittene
Sachlage übertragen. Falls es gelingt, einen Zusammenhang zwischen der
Redensart und dem aktuellen Anwendungsbereich herzustellen, ist die
Wahrscheinlichkeit gross, dass auch die damit vollzogene Bewertung
akzeptiert wird (vgl. Burger 2003:
108ff., 102ff., 114ff., 120ff.; zu den
Wortverbindungen vgl. Duden 11, 2002). Redensarten können in einer Argumentation als
pragmatisches Argument (Bewertung) angeführt werden und die Funktion der
Schlussregel übernehmen.
Abstimmungs-Nr. 168 |
Datum:
6. Dez. 1953 |
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Analyse:
Das "Fass ohne Boden" ist ein nominativer
Phraseologismus, d.h. eine feste Wortfügung, die substantivisch
eingesetzt werden kann. Die semantische Ebene verweist auf einen
Sachverhalt, der "bodenlos" bzw. grenzenlos ist. Der
Phraseologismus befindet sich sowohl im Text als auch im Bild. Bonsiepe (1966: 37) würde hier
(wie auch bei den folgenden Beispielen) von einer "Remetapher"
reden, von einer visuell rückgängig gemachten Metapher.
Im aktuellen Anwendungsbereich wird das "Fass
ohne Boden" auf die Steuervorlage übertragen, die somit die
Eigenschaften dieses nominativen Phraseologismus übernimmt: Die
Annahme der Vorlage - so die Befürchtung - würde zu immer mehr
Steuern führen.
Das Bild mit den fallenden Münzen aktiviert
zudem die semantischen Felder "Geld aus dem Fenster werfen",
"Geld verschwenden" oder "Giesskannenprinzip". Das "Fass ohne
Boden" geht jedenfalls mit einer negativen Konnotation einher.
Die Argumentation lautet: Die Steuervorlage
ist abzulehnen (Konklusion), weil sie ein Fass ohne Boden ist
(Argument). Dabei ist das Argument als rhetorische Frage
formuliert und beinhaltet implizit auch gleich den
Begründungszusammenhang: denn ein Fass ohne Boden ist schlecht
und ergo abzulehnen (Schlussregel). |
Grafik:
Peter Birkhäuser (Wassermann AG, BS) |
Titel:
Bundesbeschluss über die verfassungsmässige Neuordnung des
Finanzhaushaltes des Bundes
Resultat:
abgelehnt |
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk
1979: 66 |
Sammlungen:
MfGZ 51-532;
SfG
9915,
SNB o.S. |
Abstimmungs-Nr. 133 |
Datum:
1. Dez. 1940 |
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Analyse:
Auch das "Schneckentempo" ist ein nominativer
Phraseologismus. Im Gegensatz zum vorangehenden Beispiel wird
die Redewendung aber nicht im Text, sondern nur im Bild
explizit. Gezeigt wird eine kriechende Schnecke, wobei der
Betrachter aus eigener Denkleistung den Bezug zum
"Schneckentempo" herstellen muss. Dies wird durch den Text
"Nicht wieder zu spät" unterstützt. Denn wer im Schneckentempo
vorangeht, läuft Gefahr, sich zu verspäten.
Die Aussage ist nur verständlich, wenn der
Rezipient den Phraseologismus erkennt und darüber hinaus weiss,
dass der militärische Vorunterricht bereits 1907 (Nr. 66) und
1935 (Nr. 119) Gegenstand einer Volksabstimmung war. Beide
Vorlagen wurden trotz Widerstand von linker Seite angenommen.
Der mahnende Appell "Nicht wieder zu spät" suggeriert, dass der
militärische Vorkurs damals zu spät eingeführt wurde.
Der Ausbau der militärischen Grundausbildung
wurde aber trotz des beginnenden Zweiten Weltkriegs abgelehnt,
da sich neben linken diesmal auch konservative und religiöse
Kreise gegen die Vorlage stellten (Meylan/Maillard/Schenk
1979: 40f.). |
Grafik: Pierre Gauchat (J.C.
Müller, Zürich) |
Titel:
Bundesgesetz über die Abänderung der Art. 103 und 104 des
Bundesgesetzes vom 12. April 1907 betreffend die
Militärorganisation (Einführung des obligatorischen
militärischen Vorunterrichts); Resultat: abgelehnt |
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk
1979: 41 |
Sammlungen:
MfGZ 5-417;
SfG
9929;
SNB o.S. |
Abstimmungs-Nr. 165 |
Datum:
23. Nov.
1952 |
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Analyse:
Das Bild zeigt den propositonalen (satzwertigen)
Phraseologismus "jemanden in die Zange nehmen", was soviel
bedeutet wie jemanden in die Enge treiben und unter Druck
setzen. Die
Visualisierung soll diesen Druck physisch
nachvollziehbar machen (zu den Metaphern und ihre körperliche
Grunderfahrung vgl. Lakoff/ Johnson 1998).
Die Argumentation lautet: Die "Preisdiktatur"
ist abzulehnen (Konklusion), weil sie einem "Zwangsstaat" bzw.
einer "Bevogtung" gleichkommt (Argument), wodurch der Bürger "in
die Zange genommen" würde (Begründungszusammenhang).
In dieser Auslegung wird die
überdimensionierte Hand zur "öffentlichen Hand" bzw. zum Staat,
und das Zugreifen mit der Zange zu einem empfindlichen
"Staatseingriff".
"Bevogtung" ist übrigens eine Allusio
an den Vogt Gessler, den Widersacher des Nationalmythos Wilhelm
Tell. Der Wortstamm "Vogt" findet auf Abstimmungsplakaten oft
Verwendung, wenn es um obrigkeitliche Verfügungen geht. |
Grafik:
Kaspar Gisler (Hans Portmann, Hug & Söhne AG, Zürich) |
Titel:
Bundesbeschluss über die befristete Weiterführung einer
beschränkten Preiskontrolle
Resultat:
angenommen |
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk
1979: 103 |
Sammlungen:
MfGZ 13-133;
SfG
9917,
SNB o.S. |
Abstimmungs-Nr. 134 |
Datum:
9. März 1941 |
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Analyse:
Der propositionale Phraseologismus "am eigenen
Ast sägen" findet auch hier im Bild eine visuelle Rückführung.
Allerdings ist die Umsetzung nicht ganz getreu: Gesägt wird
nicht am Ast, sondern am Stamm, und der Sägende ist auch nicht
identisch mit demjenigen, der auf dem Ast sitzt. Es handelt sich
also weniger um eine uneinsichtige Selbstschädigung, als um eine
schädigende Fremdeinwirkung.
Argumentation: Das "Obst der Volksernährung"
ist zu erhalten (Argument), durch die "Reval-Initiative" wäre
dies jedoch gefährdet, da sie am eigenen Ast sägt (sprich: der
Volksernährung die Grundlage nehmen würde)
(Begründungszusammenhang), weshalb die "Reval-Initiative"
abzulehnen ist (Konklusion).
In dieser Auslegung können die sägenden Hände
den Initianten der "Reval-Initiative" zugeordnet werden, während
der Bub auf dem Ast metonymisch für das Volk steht, das mit Obst
zu versorgen ist.
Die Argumentation vollzieht sich vom Text
(Argument) über das Bild (Begründungszusammenhang) wieder zum
Text (Konklusion), wobei das Bild und die Konklusion über die
begründende Konjunktion "also" syntaktisch miteinander verknüpft
sind. |
Grafik:
Paul Nyffenegger (Gebr. Fretz AG, ZH) |
Titel:
Eidg.
Volksinitiative 'zur Neuordnung des Alkoholwesens'
Resultat:
abgelehnt |
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk
1979: 154 |
Sammlungen:
MfGZ 12-969;
SNB o.S. |
Abstimmungs-Nr. 299 |
Datum:
2. März 1980 |
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Analyse:
"Damit die Kirchen im Dorf und in der
Stadt bleiben" ist eine Abwandlung des propositionalen
Phraseologismus: "die Kirche im Dorf lassen". Die Redensart wurde
also im aktuellen Kontext
(Initiative zur vollständigen Trennung von Kirche und Staat)
angepasst (vgl. Burger 2003: 150ff.):
Das Dorf bzw. die Stadt als politische
Gemeinde wird durch die Redensart "die Kirche im Dorf lassen"
mit der Kirchgemeinde in Verbindung gebracht, was
der Absicht der Initiative - die Trennung von Kirche und Staat -
genau entgegenläuft. Das Zitieren einer althergebrachten
Volksweisheit betont zusätzlich, dass man Altbewährtes nicht
ändern soll.
Das Verhältnis von Text und Bild kann hier
übrigens als redundant bezeichnet werden, da beides auf die
"Kirche im Dorf" verweist und somit eine Verdoppelung der
Aussage vorliegt. Das Bild ist nur eine visuelle Ergänzung oder
eben eine Illustration. Die Wahl der Fotografie bestärkt jedoch
den dokumentarischen Charakter und wird quasi als Beweis
angeführt (vgl. Barthes 1990: 38ff.). "Die Kirche steht in einem
mittelalterlichen Dorfkern - hat dort also schon immer gestanden
und soll dort auch stehen bleiben".
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Grafik: U. Schenker (Hug &
Söhne AG, Zürich) |
Titel:
Eidg.
Volksinitiative 'betreffend die vollständige Trennung von Kirche
und Staat'
Resultat:
abgelehnt |
Quellen: n.n. |
Sammlungen:
MfGZ 38-666 |
Abstimmungs-Nr. 161 |
Datum:
18. Mai.
1952 |
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Analyse:
Das geflügelte Wort ist oft jünger in seiner
Entstehungsgeschichte als Sprichwörter und kann auf ein
allgemein bekanntes Zitat zurückgeführt werden (vgl. Burger
2003: 46). Nebst literarischen Vorlagen dienen heute auch
Werbeslogans oder Zitate von Politikern und anderen Prominenten
aus den Massenmedien als Quelle von geflügelten Worten.
"Sand ins Getriebe" stammt aus einem Gedicht
von Günter Eich: Seid Sand im Getriebe der Welt! Nein, schlaft
nicht, - während die Ordner der Welt geschäftig sind! - Seid
misstrauisch gegen ihre Macht, - die sie vorgeben für euch
erwerben zu müssen! - Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer
sind, - wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! - Tut
das Unnütze, singt die Lieder, - die man aus eurem Mund nicht
erwartet! - Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe
der Welt! (aus Günther Eich, Träume).
"Seid Sand im Getriebe der Welt"
wird von der
politisch Linken und den neuen sozialen Bewegungen als
systemkritisches Diktum verwendet. Auf diesem Plakat von
bürgerlicher Seite wird es jedoch von einem Fahnen- zu einem Stigmawort umdefiniert
und als "entlarvendes" pragmatisches Gegenargument zur Ablehnung der
Vermögensabgabe angeführt. |
Grafik: Donald Brun (Säuberlin&Pfeiffer
AG, Vevey) |
Titel:
Eidgenössische Volksinitiative 'zur Rüstungsfinanzierung und zum
Schutz der sozialen Errungenschaften'
Resultat:
abgelehnt |
Quellen: n.n. |
Sammlungen:
MfGZ 8-747;
SfG
11210;
SNB o.S. |
Literatur:
Barthes, Roland (1990): Rhetorik des
Bildes. In: Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn.
Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Erste
Auflage 1990, Frankfurt am Main, S. 28-46.
Bonsiepe, Gui (1966): Visuell/verbale Rhetorik. In: Ulm. Zeitschrift
der Hochschule für Gestaltung, 9. Jg. 1966, Nr. 14, S. 23–40.
Burger, Harald (2003): Phraseologie. Eine Einführung
am Beispiel des Deutschen. 2., überarbeitete Auflage, Berlin.
Duden 11 (2002): Redewendungen. Wörterbuch der
deutschen Idiomatik. 2., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage,
Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich.
Lakoff, George/ Johnson, Mark (1998): Leben in
Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Aus dem
Amerikanischen übersetzt von Astrid Hildenbrand. Heidelberg, (zuerst 1980: Metaphors We Live By.
Chicago).
Meylan, Jean/ Maillard, Philippe/ Schenk,
Michèle (1979): Bürger zu den Urnen. 75 Jahre eidgenössische
Abstimmungen im Spiegel des Plakats. Lausanne.
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