Die Abstimmung

als performativer Akt

Judith Arnold, Zürich, den 20.03.2007

 

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Mit dem Votum für oder gegen eine Abstimmungsvorlage gibt das Stimmvolk in einer direkten Demokratie seinen Volkswillen kund. Das "Ja" oder "Nein" an der Urne entscheidet über die Annahme oder Ablehnung der Vorlage. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht kann dieses Votum als performativer Akt gelten: Performativ sind Äusserungen immer dann, wenn sie nicht nur über etwas sprechen, sondern selbst eine Handlung ausführen (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 1996: 183ff.). Die Sprechakttheorie wurde von Austin in einer Vorlesung 1955 entwickelt (vgl. Austin 1962) und später von Searle (1969) weiter geführt.

Die folgenden Plakate stellen die Volksabstimmung als performativen Akt dar, wobei Text und Bild nach Bonsiepe (1966: 31f.) eine visuell/verbale Figur bilden: Mit dem "Ja" auf dem linken Plakat werden die "Steuerlasten" umgestossen, die metaphorisch durch Gewichtsteine visualisiert sind (vgl. "Remetapher" bei Bonsiepe 1966: 37). Auf dem Plakat rechts wird das "Nein" zu einem Bollwerk gegen die drohende "Teuerungswelle". Auch bei der Welle im Bild handelt es sich um eine Remetapher (ebd.), während das gemauerte "N" nach Bonsiepe (1966: 40) ein Typogramm darstellt.

Links: Bundesbeschluss über die verfassungsmässige Neuordnung des Finanzhaushaltes des Bundes (angenommen). Rechts: Eidgenössische Volksinitiative 'zur Einführung der 44-Stunden-Woche' (abgelehnt).
Abstimmungs-Nr. 185 Datum: 11. Mai. 1958
Grafik: (Druck Wassermann AG, Basel)
Quellen: Meylan/Maillard/Schenk 1979: 71
Sammlungen: MfGZ 13-539; SfG 35927; SNB o.S.
 
Abstimmungs-Nr. 188 Datum: 26. Okt. 1958
Grafik: Erwin Däppen (Wassermann AG, Basel)
Quellen: n.n.
Sammlungen: MfGZ 39-645

Analysiert man die zugrunde liegende Argumentationsstruktur, so lautet das Argument links "weil die Vorlage Steuer-Entlastung bringt" und rechts "weil die Vorlage eine neue Teuerungswelle bringt". Beide Plakate folgen einer pragmatischen Argumentation (vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca 2004: 375–382), wobei links der Nutzen bei Annahme der Vorlage und rechts die Abwehr eines Schadens bei Ablehnung der Vorlage dargestellt wird. Die Text und Bild übergreifende Argumentation wird vor allem auf dem Plakat rechts deutlich, wo die argumentative Verknüpfung von der begründenden Konjunktion "Darum" geleistet wird, die sowohl auf das Bild wie auch auf den Text verweist.

Zwischen der Welle im Bild und der "Teuerungswelle" im Text handelt es sich nach Bonsiepe (1966) um einen "visuell/verbalen Parallelismus" (S. 35). Interessanterweise hat die Darstellung der Welle für das Argument und für den Begründungszusammenhang eine unterschiedliche Funktionen: Für die Bildung des Arguments "weil die Arbeitszeit-Initiative eine neue Teuerungswelle bringt" ist die Darstellung der Welle redundant (vgl. Barthes 1990: 33), denn das Bild der Welle wird im Text durch die "Teuerungswelle" verbalisiert und in ihrer Bedeutung verankert (vgl. Barthes 1990: 34). Für den Begründungszusammenhang ist die Darstellung der Welle jedoch unerlässlich. Die Schlussregel lautet implizit: "die Arbeitszeit-Initiative ist abzulehnen, weil ein "Nein" an der Urne die neue Teuerungswelle aufhalten kann". Und diese Schlussregel wird erst in Verbindung mit dem Typogramm des Bollwerks gebildet, woran die Welle bricht.

 

Literatur:

Austin, John L. (1976): Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart (zuerst 1962: How to do things with Words. Oxford).

Barthes, Roland (1990): Rhetorik des Bildes. In: Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Erste Auflage 1990, Frankfurt am Main, S. 28–46.

Bonsiepe, Gui (1966): Visuell/verbale Rhetorik. In: Ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung, 9. Jg. 1966, Nr. 14, S. 23–40.

Linke, Angelika/ Nussbaumer, Markus/ Portmann, Paul R. (1996): Studienbuch Linguistik. 3., unveränderte Auflage, Tübingen.

Meylan, Jean/ Maillard, Philippe/ Schenk, Michèle (1979): Bürger zu den Urnen. 75 Jahre eidgenössische Abstimmungen im Spiegel des Plakats. Lausanne.

Perelman, Chaim/ Olbrechts-Tyteca, Lucie (2004): Die neue Rhetorik: eine Abhandlung über das Argumentieren. Stuttgart-Bad Cannstatt (zuerst 1958: Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique. Paris).

Searle, John R. (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main (zuerst 1969: Speech acts. An essay in the philosophy of language. Cambridge: University Press).

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